In Zeiten, in denen das Smartphone zum alltäglichen Begleiter geworden ist, hat man nur selten Ruhe. Schon am Eingang zur Ausstellung pingt das Gerät und suggeriert scheinbar wichtige Neuigkeiten wie Mails, SMS oder Nachrichten. Der Blick auf das Display verrät allerdings, dass da nichts gekommen ist. Beim Einlesen in das Begleitblatt zur Ausstellung pingt es erneut mehrfach und wieder ist es nicht das eigene Smartphone. Erst als man vor dem ersten Kunstwerk steht, wird man gewahr, dass der Ton aus der kleinen weißen Glocke kommt, die da auf einem runden Sockel steht.

Mit „Mindfulness Bell“ hat uns der in Berlin lebende Künstler Hojin Kang erwischt und wir sind mitten in der Gedankenwelt der Ausstellung gelandet. Der Künstler und Grafikdesigner beschäftigt sich mit Technologie und deren Wechselwirkung mit menschlichen Bedürfnissen. Wie wirkt sich Technologie auf unser Leben aus, wie verändert es unser Verhalten und was macht die Digitalisierung der Welt mit uns?

Schnell erklärt sich der kryptische Ausstellungstitel „663.044.400“. So viele Atemzüge macht ein Mensch durchschnittlich bei einer Lebenserwartung von 73 Jahren. Der Gang durch die Ausstellung tut weh, gerade weil sie so gut ist. Jedes Werk führt uns deutlich vor Augen, wie schräg unser Umgang mit der Technik eigentlich geworden ist und wie sehr uns die digitale Welt vereinnahmt. In der Videoserie „Do you breathe when you scroll?“ nimmt der Künstler seinen Atem mit einer Wärmekamera auf, während er sein Smartphone nutzt. In „Please Wait“ werden wir hingehalten und warten, das etwas passiert. Auf dem Bildschirm flackern immer wieder andere Ladesymbole auf und versprechen baldigen Start. Ladebalken zeigen Fortschritt, Kreise vollenden sich, aber es passiert nichts. Unwillkürlich fragt man sich, wie viel Lebenszeit man wohl in den letzten Jahren vor solchen Ladesymbolen verplempert hat.

Da kommt die Arbeit „663.044.400 Breath Sculpture“ gerade richtig. Im hintersten Raum der Stadtgalerie ist es dunkel. Wenn sich die Augen an das Dunkel gewöhnt haben, bemerkt man eine Plastik mit einer unregelmäßig gefrästen Oberfläche. Sie entstand nach den Daten des mexikanischen Chicxulub-Kraters. Hier soll durch einen Asteroideneinschlag den Beginn der Entwicklung der heutigen Tier- und Pflanzenwelt eingeläutet haben, zu der auch der Mensch zählt. Mit dem Atem steuert man ein rötliches Licht auf der Oberfläche, welches die Strukturen aufleuchten lässt und mit dem Atem verbindet. Hier ist man kurz ganz bei sich und hört nur den eigenen Atem.  

Im zweiten Obergeschoss betritt man die Ausstellung „Our house is on fire“. Gemeinsam mit der Kuratorin und Kunstvermittlerin Saskia Riedel haben sich Kinder einer vierten Klasse der Grundschule Wallenbaum und einer achten Klasse der Schule im Rastbachtal anhand des Klimawandels mit grundsätzlichen Fragen zur Kunst beschäftigt. Was ist ein Kunstwerk und wie entscheide ich mich für ein Werk und bette dieses in ein Gesamtkonzept ein?

Aus einer Vorauswahl haben die Kinder ihre Kunstwerke ausgewählt. Riedel schafft es mit Audioguides zu den einzelnen Werken, die Besucherinnen und Besucher in den Bann zu ziehen. Mit den Kindern führt sie Interviews, welche die Werke und ihre Auswahl näher beleuchten. Dabei lässt Riedel den Kindern größtmögliche Freiheit und so entsteht ein Dialog auf Augenhöhe. Die Werkanalysen der jungen Kuratorinnen und Kuratoren sind so bestechend klug und präzise, dass mancher Erwachsene ins Grübeln kommen dürfte. Die Ausstellung macht gerade auch wegen dieser Audioguides großen Spaß.

Fiona Arenz zeigt eine Installation, Eric Schwarz zwei Gemälde, Barbara Herold und Florian Huth eine Videoarbeit mit computersimulierten Landschaften. Felix Dreesen und Stephan Thierbach dokumentierten mit einem Floss aus Baustellenmaterialien die Landschaft entlang der Weser und führen uns vor Augen, wie sehr der Mensch die Landschaft entlang der Flüsse überformt hat. Besonders spannend ist die Videoarbeit „Our House is on Fire“ des iranisch-stämmigen Künstlerduos „Icy and Sot“. Wir lauschen dem eindringlichen Aufruf Greta Thunbergs zur Rebellion und schauen dabei gebannt auf ein Video, dessen Geräuschkulisse ohrenbetäubend ist. Im Rückwärtslauf richtet sich die archetypische Struktur eines Hauses brennend in der Wüstenlandschaft auf. Die Hütte brennt hier im wahrsten Sinne des Wortes!

Im Hof der Stadtgalerie läuft während der Ausstellung eine Musikinstallation. Mit Augmented Reality lässt man das Stuttgarter Kammerorchester lebendig werden und die „Shaker Loops“ von John Adams erklingen.  

Bis 15. Januar 2022, Stadtgalerie Saarbrücken

DI, DO, FR, 12 bis 18 Uhr, MI 14 bis 20 Uhr, SA, SO, und Feiertage 11 bis 18 Uhr

Bülent Gündüz

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Bülent Gündüz

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