Aus einem blechernen Stadionlautsprecher auf dem Boden tönt eine schaurig-schöne Stimme im Singsang mit extremem Hall. Es ist Ediths Piafs Chanson „La Foule“, in dem die Französin über einen Abend in Paris singt, an dem sie mit ihrem Liebsten durch die Menschenmengen der Großstadt tanzt und sich mitreißen lässt.
Das Stück ist Teil von Véronique Verdets Installation „Emportée par la foule“ (dt. „Mitgerissen von der Menge“) in der Ausstellung „Fouloscopie“ im Museum St. Wendel. Die Stimme ist die der Künstlerin. Schon seit geraumer Zeit setzt sich Verdet intensiv mit den Theorien des französischen Sozialwissenschaftlers Mehdi Moussaid auseinander. Den Ausstellungstitel „Fouloscopie“ hat sie von ihm übernommen. Es ist ein Kunstwort aus dem französischen Begriff „La foule“, die Menschenmenge, und dem Suffix -scopie“, was man als „genaue Beobachtung und Auswertung“ umschreiben könnte.
Moussaid untersucht weltweit Massenphänomene und Gruppenverhalten und stellt diese auch grafisch dar. Verdet nutzt seine Beobachtungen zu eigenen Reflexionen über Individuum und Gesellschaft. Sie reflektiert Phänomene menschlicher Beziehungen. Im Zentrum der Installation „Emportée par la foule“ inszeniert die Künstlerin rund 2600 kleine Figuren zu einer Menschenmenge. Die Figürchen sind handgeformt und gesichtslos. Auf den ersten Blick scheinen alle gleich und doch unterscheiden sie sich in Kleinigkeiten. Die Figuren verdichten und ballen sich, streben auseinander und sind als lose Gruppen angeordnet, scheinen sich mal anzuziehen und dann abzustoßen.
An einer Wand hängt eine Fotografie mit einem schreienden Menschen. Der ganze Raum wirkt beklemmend und hinterlässt ein ambivalentes Gefühl. Menschenmassen wirken auf uns oft gefährlich. Aber was bedeutet es, Individuum zu sein in einer Gesellschaft, die von Massenphänomenen geleitet wird? Wie viel bleibt vom Einzelnen in einer getriebenen Menge? Agieren wir dort noch als Individuen oder nur noch als kollektiver Schwarm? Wie agieren wir zwischen kollektivem Einklang und Vereinnahmung, zwischen Gemeinschaft und Isolation?
Verdet, 1967 in Cannes geboren, ist wohl eine der vielseitigsten Künstlerinnen der Region und spielt mit Malerei, Bildhauerei, audiovisuellen Medien, Zeichnung und kombiniert diese zu multimedialen Installationen. In St. Wendel ist das perfekt umgesetzt. Die beiden Ausstellungsräume verschmelzen mit dem Flur zu einem großen Gesamtkunstwerk, dessen Einzelteile sich kaum noch trennen lassen. Von Arbeit zu Arbeit wird man tiefer in die Thematik gezogen.
Im ersten Ausstellungsraum hängt an der Wand hinter der Figureninstallation eine zehn Meter lange Tuschezeichnung aus einzelnen Punkten. Auch diese verdichten sich und streben auseinander, werden dicker und dünner. In einem unendlichen, sich ständig wiederholenden, monotonen Akt sitzt Verdet an diesen Zeichnungen. Im Flur sind einige kleinere zu sehen. In einer Serie hat die Künstlerin mit dem Pinsel in die Punktagglomerate in gestischem Schwung orange Streifen gesetzt. Damit bricht sie ihre formal-ästhetische Strenge und bringt Bewegung in die Punktmenge. In einer anderen Serie hat sie Markierungsfähnchen in die Punktwolken gesetzt und schafft einen räumlichen Bezug, der an Karten erinnert.
Im zweiten Ausstellungsraum herrscht vornehme Dunkelheit. Im Hintergrund läuft die Videoarbeit „Le Noir et le Blanc“. Auch hier hat Verdet in Handarbeit zahlreiche sehr ähnliche aber eben doch unterschiedliche Kügelchen in Schwarz und Weiß geformt. In einem endlosen Prozess zeigt die Künstlerin hier Anziehung und Abstoßung. Die Kugeln werden über eine Fläche getrieben, kumulieren zu kleinen Wolken, stoßen sich ab, ziehen sich an, stoben auseinander und ballen sich wieder. Im Halbdunkel des Raumes stehen weißen Stelen auf orangenen Teppichen. Darauf stehen vergoldete Figuren aus „Emportée par la foule“ unter Glashauben. „Les Parias“ (dt. „Die Ausgestoßenen“) nennt Verdet die Arbeit. Isoliert vom Raum stehen die Grüppchen beieinander.Ganz hinten, am Ende des Flures, zeigt die Künstlerin auf einem kleinen Bildschirm eine Videoarbeit. „On the Road“ hat sie während Zugfahrten gefilmt. Der Blick der Kamera schweift aus dem Fenster des Waggons auf die vorbeiziehende Landschaft. Immer wieder schaut die Kamera schaut auf den Boden von Bahnsteigen. Die Menschen sind entindividualisiert, Beine und Schuhe laufen da vor einem und tun genau das, was die anderen Arbeiten zeigen: Menschen kommen zusammen, ballen sich, bilden Grüppchen und gehen wieder auseinander. Mit diesem Kniff holt Verdet die ganze Thematik der Ausstellung in die alltägliche Wirklichkeit.