Der Ausstellungstitel „Gegenwärtige Bewegung“ hätte kaum besser gewählt ein können. Man betritt den großen Ausstellungssaal im Trakt B und wird erst einmal von einer großen Ruhe umschlungen. Das Auge streift umher, erfasst den Raum und dann plötzlich beginnen sich die Plastiken im Raum zu bewegen. Und je genauer man hinschaut, umso mehr Bewegung taucht auf. Das Material fließt von der Wand, hüpft durch den Raum, schwebt langsam drehend über dem Boden. Formen zerspringen und driften scheinbar auseinander, Material fließt ineinander, geheimnisvolle Kräfte scheinen die Formen in Balance zu halten.
Die 1963 in Reykjavik geborene Ólafsdóttir ist eine der renommiertesten Künstlerinnen des Landes. Anlass für die nun anlaufende Einzelausstellung war die Vergabe des renommierten Albert-Weisgerber-Preises der Stadt St. Ingbert an die Künstlerin. Die Preisträger-Ausstellungen finden eigentlich in St. Ingbert statt, doch die Stadt hat bis zur Sanierung der „Alten Baumwollspinnerei“ keine geeigneten Ausstellungsräume. Man fragte bei der Stiftung Saarländischer Kulturbesitz an, die gerne anbot, die Ausstellung auszurichten. Der Preis wurde seit 2015 aufgrund der Raumsituation nicht mehr vergeben, doch Oberbürgermeister Ulli Meyer wollte nicht mehr länger warten, um den Preis „lebendig zu halten“, wie er sagt. Eine schöne Idee, begegnet man doch nun den Arbeiten von Ólafsdóttir in perfekter musealer Umgebung.
Die herzustellen scheint gar nicht so einfach gewesen zu sein. Kuratorin Andre Fischer hat gemeinsam mit der Künstlerin lange an der Ausstellung getüftelt, wie beide betonen. Ólafsdóttir erzählt, dass es gar nicht so einfach gewesen sei, aus dem 30 Jahre währenden künstlerischen Schaffen auszuwählen. Insgesamt zehn Plastiken und großformatige Zeichnungen sind nun zu sehen und bieten einen konzentrierten Blick auf das Oeuvre der Künstlerin.
Ólafsdóttirs Schaffen ist geprägt von einem virtuosen Umgang mit dem Material. Scheinbar mühelos gelingt es ihr, dem Material jede Form aufzuzwingen. Metallringe zerbersten in Viertelkreise, sorgsam austariert windet sich ein Stahlband vom Boden in den Raum, mit Gummi bezogenen Holzbänder fließen aus der Wand und scheinen der Schwerkraft zu trotzen. Die Arbeiten leben von der Gegensätzlichkeit aus Schwere und Leichtigkeit, Ruhe und Bewegung, Spannung und Entspannung.
Immer wieder überlistet die Künstlerin unseren Blick. Alles fließt, alles ist in Bewegung: „Ólafsdóttirs essenzielle Themen sind Bewegung und Balance“, so Kuratorin Fischer. „Durch Gegensätze baut sie ein Gleichgewicht auf.“ Ólafsdóttir ergänzt: „Es geht mir um Zerbrechlichkeit und Fragilität.“ Das lässt sich auch gesellschaftskritisch lesen, wenn sie erklärt: „Wer stillsteht, bewegt sich nicht und Stillstand führt zum Tod. Wir leben auf einer sehr dünnen und fragilen Erdkruste, die jederzeit brechen kann.“ Demokratie, Zivilgesellschaft, Klima – gerade erleben wir, wie fragil unser Leben ist.
Viele der Plastiken sind wie gestische Zeichnungen im Raum, dieser Eindruck wird von den schwarzweißen Zeichnungen verstärkt. Die Isländerin zeichnet mit Tusche und Gesso auf Leinwand. Geschwungene breite Bänder wurden mit breiten Pinseln kraftvoll ins Bild gesetzt. Dahinter liegen scheinbar lichte Röhren. Beides ist dynamisch miteinander verwoben und induziert Tiefe im Bildraum. Die Leinwand scheint nur ein Ausschnitt aus etwas Größerem zu sein, einen begrenzenden Rand gibt es nicht.
Die wundervolle Ausstellung vereint Werke aus allen Schaffensphasen, angefangen bei den „Berührungen“, die ab 1997 entstanden und plastische Linien in weiten Bahnen in den Raum schreiben. Staunend läuft man um „Berührung #4“ und wundert sich, wie die beiden entgegengesetzten Formen so im Raum stehen können. Anfang der 2000er-Jahre folgte die Werkgruppe der „Stapelungen“, in denen die Künstlerin korbförmige Halbkugeln in den Raum setzt und sorgsam austariert. Seit den 2010er Jahren verwendet Ólafsdóttir auch weichere Materialien wie Holz und Latex. „Entschlossene Richtungslosigkeit“ besteht im unteren Teil aus Bruchstücken von Kreisen aus schwarzem Metall, über dem eine frei flottierende Linie aus Holz im Raum trudelt. Ein Meisterwerk.
Museumsleiterin Lisa Felicitas Mattheis erinnern viele Arbeiten an Bewegung: „Für mich sind die plastischen Werke visualisierter Tanz im Raum.“ Schaut man sich Ólafsdóttirs neue Arbeit „Reziprok“ an, dann weiß man, was Mattheis damit meint. Es ist eine lineare Arbeit, die an den Körper einer Tänzerin erinnert. Es ist, als habe man ihre Bewegungen als Linien eingefangen. Die zarte Bewegung des Mobiles verstärkt dieses tänzerische Element der konkaven und konvexen Lineamente noch. Ein Fest für die Sinne.
„Sigrún Ólafsdóttir. Gegenwärtige Bewegung.“ Bis 26. April 2026, Moderne Galerie Saarbrücken