Liudmyla Herasymiuk, 2022
Liudmyla Herasymiuk, 2022
28. Juni 2022

„Chronik der Gefühle“

Die Galerie der HBK Saar zeigt mit „Safe Space“ eine fulminante Ausstellung vom Alltag im Krieg in der Ukraine.

Um es vorwegzunehmen: diese Ausstellung ist ein kleines Wunder. 15 Ukrainerinnen und Ukrainer nehmen uns mit in ihre Welt und lassen uns mit ihrer Fotografie an den Geschehnissen in ihrem Land teilhaben. Das eine solche Ausstellung in Saarbrücken stattfinden kann, verdanken wir einem glücklichen Zufall.

Die junge ukrainische Fotografin Iryna Yeroshko belegt seit dem vergangenen Oktober an der HBK in Saarbrücken den Master-Studiengang „Kuratieren/Ausstellungswesen“. Nach dem Kriegsausbruch hatte sie die Idee, über die sozialen Medien Ukrainerinnen und Ukrainer einzuladen, in einem künstlerischen Schaffensprozess persönliche Eindrücke und Erfahrungen aus dem Krieg fotografisch festzuhalten. Mehr als 100 Menschen meldeten sich, 20 nehmen dauerhaft an dem Projekt teil. Für sie wurde das Projekt und die wöchentlichen Videokonferenzen zum „Safe Place“ (dt.: sicherer Ort), ein Gefühl, das nun zum Ausstellungstitel wurde.

Yeroshko hat gemeinsam mit weiteren Studierenden der HBK 15 Teilnehmer ausgewählt und zeigt deren Bilderserien aus dem Projekt „Diaries of War“ (Tagebücher des Krieges) nun in der Galerie der HBK Saar. Die Qualität der gezeigten Arbeiten überrascht, insbesondere weil die Teilnehmenden keine professionellen Künstler sind, sondern fotografiebegeisterte Laien. Nur ein Teilnehmer ist Fotograf und verdient sein Geld mit Fotos von Begräbnissen. Arbeiten von Bestattungen zeigt Volodymyr Maksymchuk auch in der Ausstellung und dokumentiert so die immense Traurigkeit im Land.

Aber nicht nur die Qualität der Werke ist überraschend, sondern auch die Vielfalt der gezeigten Arbeiten und der Ideenreichtum, einen Eindruck vom Alltag in der Ukraine zu vermitteln. Ohne das Gefühl des Voyeurismus ziehen die Arbeiten den Betrachter in die Welt des Krieges. Man kann sofort die Ängste und Ungewissheit der Menschen nachfühlen und das auch ohne plakatives Präsentieren von Leichen. Wie nah der Tod ist, zeigt Sasha Havrysevych in seinen drei Fotos. Symbolhaft wählt er die Farbe Rot. In einem Foto präsentiert er eine Hand, die vom tiefroten Saft von Schneeballbeeren blutrot ist. In einem weiteren sind kochende Rote-Beete-Knollen zu sehen, in einem Dritten ein Kuchen mit roten Schichten, der wenig elegant mit einem Messer geteilt wurde. Es ist nicht schwer, diese Bilder zu enträtseln. 

Viele andere Arbeiten sind weniger symbolhaft. Etwa Liudmyla Herasymiuks eindrückliche Fotoserie, die von einem Video ergänzt wird. Ihre Welt wird derzeit bestimmt von den Sirenen des Raketenalarms. Herasymiuk dokumentiert, wie sie sich im Badezimmer verkriecht. Ob der winzige Raum Schutz bietet, darf bezweifelt werden, für die Fotografin wird er zu ihrem persönlichen „Safe Place“. Ein Foto aus der Serie sticht heraus. Herasymiuk fotografiert sich durch das Bullauge der offenen Waschmaschinentür. Sie kauert neben dem Gerät.

Auch Iryna Yamborska führt uns die allgegenwärtige Angst vor Augen. Sie dokumentiert ihren Alltag in Fotos, drapiert aber immer ein Handy mit Fotos des Krieges in der Szene. Ein wunderbarer Kniff, um die Allgegenwart des Kriegs sichtbar zu machen. Mariana Gradil lässt uns mit ihren verschwommenen Fotos an ihren Gedanken teilhaben. Im Krieg wird alles ungewiss, die Zukunft zu einem nebulösen Etwas.

Neben der künstlerischen Fotografie verschreiben sich nicht wenige Künstlerinnen und Künstler der Dokumentation. Anastasia Zazuliak hält das Leben von Frauen und Kindern fest, die auf der Flucht unterwegs sind. Sie nimmt uns mit auf die lange Reise von der Ukraine nach Westeuropa und lässt Angst, Hunger und Müdigkeit nachempfinden. Vitaliy Matukhno dokumentiert, wie Kinder „Burgen“ aus Reifen und Sandsäcken bauen, die sich als Straßensperren entpuppen.

Ksenia Yanko hinterfragt mit ihrer Serie „Bug-out Bag“ (dt.: Notgepäck), was uns ausmacht. Als sie flüchtete, musste sie sich auf wenige Dinge beschränken, die sie mitnehmen konnte. Was war bisher wichtig und was wird in ihrem zukünftigen Leben an Hab und Gut bedeutend sein? In Deutschland ließ sie die Situation von Menschen nachstellen und hielt das Ergebnis fest. Was würden wir in der Situation machen und was wäre uns so wichtig, dass wir nicht darauf verzichten wollten? Das Nachdenken darüber lässt schnell an die Geflüchteten denken, von denen viele alles verloren haben.

Die Ausstellung berührt und HBK-Rektor Christian Bauer hat nicht Unrecht, wenn er die Fotografien in seiner Eröffnungsrede als „fulminant“ lobt. Er möchte die Ausstellung als Chronik der Gefühle verstanden wissen. Das trifft es gut: Ohne Pathos erfährt man von den Schrecken des Krieges und dem Versuch der Normalität im Ausnahmezustand auf sehr persönliche Weise.

„Safe Place“, Galerie der Hochschule der bildenden Künste, bis 9. Juli 2022

Öffentliche Führungen mit Kuratorin Iryna Yeroshko: 28. Juni und 29. Juni, 17 Uhr

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