Die Linie erlebt gerade eine Renaissance. Kaum ein Ausstellungshaus, das in den letzten Jahren keine Schau zum Thema „Linie“ organisiert hat. Nun auch die Städtische Galerie Neunkirchen. Langweilig, könnte man meinen, doch es ist eine der besten Ausstellungen des Jahres geworden.
Das liegt nicht nur an den ausgestellten Künstlerinnen, sondern auch an der perfekten Kuratierung. „Da ist schwer was los“, beschreibt Galerieleiterin Nicole Nix-Hauck den Ausstellungsparcours, den sie gemeinsam mit Kuratorin Liane Wilhelmus geschaffen hat. Und sie hat recht, denn entstanden ist eine spannungsreiche Schau, die zahlreiche Querverweise bereithält und ein intensives Sehen und Erleben ermöglicht.
Die sechs gezeigten Künstlerinnen nutzen die Linie als gestalterisches Mittel, tun das aber auf sehr unterschiedliche Weise. Schon beim Betreten des Saales sieht man an der großen Wand im Hintergrund das gewaltige Werk „paradox“ aus dem Jahr 2009. Es ist eine ältere Arbeit von Mayumi Okabayashi und eine meisterhafte Täuschung. Das Liniengewirr, das die Künstlerin auf elf Holzplatten gebannt hat, entpuppt sich aus einiger Entfernung als Knäuel, die sich im Zentrum des Bildes vereinen und in den Raum zu wachsen scheinen. In Okabayashis neueren Arbeiten verflechten sich Linien zu räumlichen und flächigen Strukturen, die sich als vibrierende organischen Formen manifestieren.
Das passt wunderbar zu Monika Schmids zarten Gespinsten aus Metalldrähten. Schmids Objekte erinnern an organische Formen aus der Natur, die wie Mottengespinste und Vogelnester im Raum hängen. Die Drahtgeflechte ergänzt sie mit feinen Vliesen oder Papieren, welche die scheinbare Natürlichkeit noch verstärken.
Manuela Tirler schafft aus Armierungsstäben Objekte, die an Geäst erinnern. Scheinbar leicht sind die zum Teil über 100 Kilogramm schweren Arbeiten, die von der Empore wachsen oder aus der Wand zu ranken scheinen und ein intensives Schattenspiel generieren. Das Rost-Rot untermalt den Eindruck von Reisig noch. Handwerklich ist das so perfekt umgesetzt, dass die Schweißstellen nur bei genauem Hinschauen sichtbar werden und das Geheimnis der Plastiken enthüllen.
Auf der Empore auf der gegenüberliegenden Seite herrscht dagegen mathematische Strenge. Mit dünnen Linien sind geometrische Formen an die Wand gezeichnet. Das glaubt man zumindest auf den ersten Blick. Beim zweiten wird klar, dass die niederländische Künstlerin Anne Rose Regenboog das Auge täuscht. Betritt man das Obergeschoss, wird schnell deutlich, dass es sich um dreidimensionale Objekte handelt, die vor der Wand zu schweben scheinen. Bewegt der Betrachter sich auf und ab, verändern sich die Objekte mit dem Betrachtungswinkel. Auch hier ist die Umsetzung handwerklich perfekt. Die hauchdünnen Drahtgestelle formen Kuben, deren Inneres von geometrischen Grundformen und Linien belebt ist. Im Zusammenspiel mit Licht und Schatten entsteht ein wunderbares Formenspiel.
Auf der anderen Seite der Empore herrscht ähnliche Verwirrung. Was sich auf den ersten Blick als Zeichnung menschlicher Körper darstellt, entpuppt sich als filigranes Objekt aus Garn. Antje Flotho „zeichnet“ mit Fäden Figuren in ekstatischer Bewegung. Meist sind es tänzerischen Posen oder Yoga-Stellungen. Die Künstlerin legt zuerst die Konturen an und füllt diese dann in einem schnellen gestischen Akt mit Fäden. Die Dynamik hält sie mit wenigen Linien außerhalb der Körper fest und betont so die intensive Spannung des Körpers.
Im Mittelpunkt der Ausstellung dann noch einmal ein kleines Highlight. Im zentralen Kabinett hängt eine aktuelle Arbeit von Cordula Hesselbarth. Die Professorin für Wissenschaftsillustration präsentiert eine räumliche Collage aus Zeichnungen, Fotos, Cut-Outs und Drucken auf Papier und Textil, die unsichtbar aufgehängt im Raum schweben. Zu entdecken gibt es zahlreiche Assoziationen an natürliche Linien: Myzelien, deren Linien über den Zeichengrund kriechen oder in den Raum wuchern, Konglomerate von Zellen, Liniengebilde oder DNA-Sequenzen. Die komplexe Vielfalt der Formen erlaubt immer neue Ein- und Durchblicke, die Formen verschmelzen bei dem Spaziergang um das Werk zu immer neuen Verschlingungen.
Die Arbeiten sind in einer ausgeklügelten Reihung positioniert, die einen zeitlichen Ablauf wie in einem Film suggerieren. Bewegt man sich um die Installation, bewegen sich die einzelnen Blätter und Cut-Outs. Eine Videoprojektion wirft Lineamente auf die Blätter und untermalt die Szenerie mit einem zarten Klangteppich. Stundenlang könnte man hier verweilen und schauen.
Linienwerk, bis 3. November 2024, Städtische Galerie Neunkirchen