Endlich, möchte man fast sagen, bekommt die Grande Dame der zeitgenössischen Kunst im Saarland mit „Annegret Reiner – Loslösung“ eine große museale Einzelausstellung. Seit vierzig Jahren bestimmt Leiner die Kunst in der Region mit. Nicht nur künstlerisch ist sie wegweisend, sie war auch lange eine treibende Kraft im Vorstand des Saarländischen Künstlerbundes.
Leiner wurde 1941 in Hannover geboren und kam 1961 nach dem Abitur zum Studium der Kunstgeschichte an der Universität des Saarlandes nach Saarbrücken. In den Jahren 1962/63 absolvierte sie die Grundlehre bei Oskar Hohlweck an der Werkkunstschule in Saarbrücken und ging dann zum Kunststudium an die Hochschule der bildenden Künste in Braunschweig, wo Emil Cimiotti zu ihren Lehrern gehörte. Im Jahr 1966 legte sie dort das Staatsexamen für das Lehramt ab, entschied sich aber für die freiberufliche Tätigkeit als Künstlerin und kam der Liebe wegen nach Saarbrücken zurück.
Ausgehend von gegenständlichen Bildkompositionen und skulpturalen Arbeiten zu Beginn ihrer künstlerischen Tätigkeit, löste sich Leiner Ende der 1980er Jahre zunehmend von den gegenständlichen Motiven zugunsten von Linie und Farbe, die sie in gestischem Duktus aufbrachte. Wunderbar die meist großformatigen Kohlezeichnungen von menschlichen Körpern, die in dieser Zeit entstanden. Expressiv gezeichnet, mit emotionaler Linienführung entstanden komplexe Linienknäule, aus deren Verdichtung und Lockerung sich die menschliche Figur bildet. Leider sind sie in der Ausstellung in der Modernen Galerie nicht zu sehen, dabei wäre das so wichtig gewesen, um Leiners Entwicklung zu zeigen. Aber die 18 Gemälde, Zeichnungen und Collagen bieten trotzdem einen wunderbaren Überblick über Leiners Arbeit der letzten Jahrzehnte.
Die Schau in Saarbrücken setzt erst 1989 ein, als Farbe und Lineamente immer stärker in den Vordergrund rückten. Man erkennt aber auch hier noch Figuren. Erst in den 2000er-Jahren scheint die Farbe autonom zu sein, die Linie als fiebriges Element so weit abstrahiert, dass keine Form mehr auszumachen ist. Auch wenn man kaum noch Gegenständliches ausmachen kann, meint man Figuratives zu erahnen.In den letzten 20 Jahren gewinnt die Form wieder an Bedeutung. Ende der 2000er Jahre tauchen Linien als schwarze „Stäbe“ auf und definieren den Bildraum. Die Arbeiten werden lichter, die Bildelemente fragmentierter. In den folgenden Jahren beginnt Leiner transparente Zeichenfolie als Bildträger zu nutzen, schwarzweiße Collageschnipsel aus hoch kopierten Fotos bringen gegenständliche und figurative Elemente zurück und verankern die Motive in der realen Welt. Diese ergänze die Künstlerin durch eine gestische Malerei, die hoch emotional ist. Angst, Brutalität und Gewalt werden in Farbe und gestischem Auftrag verarbeitet.
Annegret Leiner – Loslösung, Moderne Galerie, Saarbrücken, bis 7. Januar 2023