Schon anderthalb Jahre sind seit dem Tod der saarländischen Künstlerin Andrea Neumann vergangen. Die Lücke, die sie in der Kunstszene der Großregion hinterlassen hat, ist aber immer noch groß. Auch im saarländischen Künstlerhaus vermisst man die engagierte Kollegin, die das Ausstellungsprogramm in den vergangenen Jahren maßgeblich mitgestaltet hatte. Deshalb hat man gemeinsam mit der Stiftung ME Saar des Verbandes der Metall- und Elektroindustrie im Saarland den „Kunstpreis Andrea Neumann“ ins Leben gerufen. Mit 5000 Euro dotiert, sollen zukünftig in zweijährlichem Rhythmus künstlerische und kuratorische Projekte gefördert und im Künstlerhaus präsentiert werden. Die Bewerbungsphase für den Preis 2022/23 hat gerade begonnen und läuft noch bis 31. Juli 2022.
Zur Einführung des Kunstpreises zeigt das Künstlerhaus nun bis 13. März 2022 Arbeiten von Andrea Neumann unter dem Titel „An der Schwelle zur Abstraktion.“ Und damit ist Neumanns künstlerisches Werk gut beschrieben. Neumann hat nie abstrakt gearbeitet, doch ausgehend von Fotos die Auflösung der Form bis an die Grenzen des Möglichen getrieben und diese Grenzen immer wieder neu ausgelotet.
In den Gedenkausstellungen der letzten Monate war ein retrospektiver Blick auf das Werk von Neumann zu sehen und trotzdem gelingt es Kuratorin Anne-Marie Stöhr, eine neue Seite der Künstlerin zu offenbaren. In der Galerie des Künstlerhauses sind Gemälde zu sehen, im Studio Papierarbeiten, die bisher noch nie gezeigt wurden. Spannend ist bei den Papierarbeiten die Möglichkeit, Neumanns Entwicklung nachempfinden zu können. Bleistiftzeichnungen, die Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre entstanden, zeigen wilde Schraffuren, die an Landschaften erinnern, zwei Werke zeigen Menschen bei der Verrichtung von Alltagsarbeiten.
In den Aquarellen und Gouachen auf Papier schwankt Neumann in kräftigen Farben zwischen expressiven Farblandschaften und gegenständlichen Stillleben. Dabei behalten die Arbeiten ihren autonomen Status, sind wohl vor allem als experimentelles Spiel zu verstehen und nicht als Vorstudien. Wie in den Gemälden scheint der Prozess des Malens bedeutender als die realistische Darstellung von Gesehenem, die Pose der Figuren bedeutender als die Form. Immer wieder tritt der weiße Malgrund nach vorne und wird zum integrativen Bestandteil des Bildes. Häufig kann man das Gesehene nicht restlos entschlüsseln, muss sich mit den Augen durch das Bild tasten und der Fantasie freien Lauf lassen.
Auch in den Gemälden beschritt Neumann diesen Weg konsequent. Sie malte mit Eitempera, was viel Können und Geschick bei der Farbanmischung bedarf. Belohnt wird man mit einem besonderen Farbeindruck. Auch hier schafft es Kuratorin Stöhr, zu überraschen, denn die gezeigten Werke aus den 2000er Jahren sind ungewöhnlich farbig. Erst um 2010 fand Neumann zu den gedämpften Farbtönen, die sie in den letzten Jahren ihres Schaffens bevorzugte. Hier aber scheint die Künstlerin ein um das andere Mal die Farbe zu feiern. Etwa in „Ohne Titel (Fisch)“ aus dem Jahr 2006, in welchem der titelgebende Fisch als solches in einer Kiste erkennbar bleibt, die Umgebung sich aber in einem expressiven Farbnebel aus Blau und Rot auflöst.
Immer wieder lohnt es sich, näher an die Leinwand zu treten und den Farbauftrag zu untersuchen. Da entdeckt man Verkrustungen, die Aufbrechen und den Blick auf darunterliegende Farbschichten freigeben, aber auch einen lasurhaft dünnen Auftrag. Farbspritzer und Farbläufe, aber auch dünn ausblutende Farblachen, die langsam in der Horizontalen eingetrocknet sind, dann wieder Spuren des Pinsels.
In „Madonna blau“ (2007) setzt Neumann die Farbe als Kontrapunkt. Die Madonna ist schemenhaft im Mittelpunkt der Leinwand drapiert, mehr durch Auslassungen erkennbar als durch die gemalte Form der hellbeigen Kleidung. So scheint sie aus Licht zu bestehen. Umgeben ist sie von einer Glorie aus leuchtendem Blau, jener Farbe, mit der Madonnen der Renaissance- Meister sonst häufig eingekleidet sind. Wunderbar auch „Gegenlicht“ aus dem Jahr 2012, dessen violetten Farbgestöber in verschiedenen Techniken aufgetragen wurde und Weite suggeriert. In diese Farbfläche sickern vom oberen Bildrand zwei schwarze Farbnebel, die schließlich auf der Leinwand zu explodieren zu scheinen und sich als Lampen oder Kronleuchter identifizieren lassen. Licht aber scheinen sie eher zu verschlucken als auszusenden. Jedes Bild ist hier ein kleines Meisterwerk.
„Andrea Neumann – An der Schwelle zur Abstraktion“, Saarländisches Künstlerhaus, Saarbrücken, bis 13. März 2022